Entwurzelt – Flucht aus Pommern -15-

 

Flucht aus Pommern

Vorwort | Liebeserklärung an Altwieck | Das Ende der Idylle | Das Grauen und die Barbaren | Der Familie entrissen | Die Odyssee | Lotte, liebe Lotte | Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck | Die neuen Herrscher | Die Flucht | Gen Westen | Das Wiedersehen | Die Sonne scheint wieder


Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck

Also machten wir beide unseren Fluchtplan wahr! Keiner von uns Mädchen hatte in dieser Nacht geschlafen. Schon in der Nacht öffnete ich leise ein Fenster, was gar nicht schwer aufging. Unter uns war ein großes Rhabarberfeld mit großen Blättern, das zum Verstecken, zum Unterkriechen, bestens geeignet war. Jetzt ging es los. Irma musste zuerst springen, da sie sonst den Mut verlor. Ich gab ihr einen Schubs und sie sprang. Ich sprang direkt hinterher. Wir landeten unbeschädigt im weichen Rhabarberfeld und krochen unter die großen Blätter. Die Blätter waren wie ein Dach über uns. Unter ihnen waren wir nicht zusehen. Wir krochen unter ihnen weiter bis an den Straßenrand. Auf dieser Straße patroullierten russische Soldaten, sie bewachten Tag und Nacht das ganze Gut. Wir warteten den Zeitpunkt ab, und als wir keine Schritte hörten, krochen wir leise über die Straße in einen tiefen, wasserfreien Straßengraben. Hier warteten wir und horchten auf Stiefelschritte. Da wir immer noch keine hörten, krabbelten wir die Grabenböschung hoch und verschwanden im dunklen Wald.

Jetzt waren wir erst mal gerettet und konnten uns entspannen. Wir waren in dem Staatsforst. Im Morgengrauen kamen wir viel unbeschwerter voran. Wir suchten die Bahngeleise Berlin -Danzig, die durch Altwieck und Pirstow führten, dahinter sollte unser Ziel Göritz sein. Nach längerer Wanderung kamen wir in die Nähe der Eisenbahnstrecke. Wir folgten ihr immer im weiten Abstand und konnten uns so nicht im dunklen Wald verlaufen. Wir hatten schon eine weite Strecke hinter uns, als wir mit einmal in der Ferne Hundegebell hörten. Wir wurden sehr vorsichtig und schlichen uns vorsichtig heran. Durch die Bäume sahen wir im Morgengrauen ein großes Biwakzelt. Wir vermuteten, es war voller schlafender Russen. Die Hunde hatten uns noch nicht gewittert. Sofort machten wir mit schnellen Schritten einen riesengroßen Bogen um diesen Platz. Von unserem Ziel Eisenbahnstrecke waren wir weit abgetrieben. Wir waren eine lange Strecke gelaufen und zum Teil sehr schnell gegangen, als Irma kapitulierte. Sie konnte und wollte nicht mehr! Ich legte mich zu ihr und redete mit Engelszungen tröstend und beruhigend auf sie ein. Wir suchten einen wärmenden Sonnenplatz, denn die Sonnenstrahlen, die langsam durch die Bäume fielen, taten uns beiden gut. Wir schliefen, ich glaubte lange Zeit, ganz fest ein. Als wir aufwachten, waren wir warm und wunderbar erholt. Um uns herum tiefster Friede und herrlicher Laubwald.

Irma konnte wieder lachen und ich auch. Langsam marschierten wir weiter und fanden auch wieder die Bahnstrecke Berlin-Danzig In größerem Abstand gingen wir ihr nach, sie war unser Wegweiser. Wenn wir einen Zug hörten, versteckten wir uns. Wenn wir nichts mehr hörten, marschierten wir ohne große Kraftanstrengung weiter. Hunger und Durst hielten sich in Grenzen, denn unser Ziel Göritz war in naher Ferne. Nach längerem Marsch, ohne Gefahren, erreichten wir das Ende des Staatsforsts. Zur linken Seite schauten wir unten ins Tal, wo unser Dorf Altwieck lag. Jetzt kannten wir uns genau aus. Auf keinen Fall durften wir ins Dorf, denn dort wurden wir ja zuerst gesucht. Wir machten also einen Bogen ums Dorf herum. Vom Ende des Staatsforsts gingen wir zielstrebig in unseren Privatwald. Von hieraus führte unser Feldweg, rechts und links unsere Felder, direkt über die Bahnstrecke, auf unseren Bauernhof. Von unserem Privatwald konnten wir unseren Bahnhof umgehen. Wir kamen ungesehen über die Grabowbrücke und erreichten Pirbstow. In der Abenddämmerung waren wir am Ortsschild Göritz.

Jetzt aber war guter Rat teuer, in das vollbesetzte Dorf Göritz trauten wir zwei jungen Mädchen uns nicht herein. Wir wollten erst mal die Dunkelheit abwarten. Vorsichtig schlichen wir an das erste Gebäude heran, vor dem ein alter Mann stand. Er war hier in Göritz zu Hause und konnte uns genaue Auskunft geben. Wir vertrauten ihm unsere pikiere Lage an. „Wo finden wir meine Eltern Familie Berthold Schmidt aus Altwieck?“ Die Familie Schmidt ist auf dem Hof Bewersdorf, Sammellager der Altwiecker, untergebracht. Dieser alte Mann war unser Glücksbringer, wir konnten ihm nicht oft genug Danke sagen. Er mahnte uns zu größter Vorsicht. Alle Göritzer und hergetriebene Altwiecker Landsleute waren der russischen Kommandantur im Dorf unterstellt. Das Dorf sei voller Russen. Er wusste einen Schleichweg und führte uns bis an den Bewersdorfer Hof, Sammellager der Altwiecker. Im Versteck mussten wir warten. Was dann passierte ist unbeschreiblich.

Nach einem halben Jahr größter Ungewissheit sahen wir uns alle lebend wieder. Mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, Rudi, Irma und ich umarmten uns, wir weinten und lachten und dankten dem Herrgott. Wo war unsere Cousine Hanni mit ihren Kindern Ulrich, Hartmut, Katrin, Christine und Ilse? Meine Eltern berichteten, dass alle leben, sie seien direkt neben der russischen Kommandantur untergebracht! Wir konnten sie in dieser Nacht nicht mehr sehen, es war zu gefährlich. Mein Vater versorgte uns zuerst einmal mit Trinken und etwas Essbarem und auch einem gemeinsamen Schlafversteck. Es war für alle was wunderbares, wenn auch auf Heu und Stroh, in der Familie geborgen zu sein.

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