Entwurzelt – Flucht aus Pommern -3-

 

Flucht aus Pommern

Vorwort | Liebeserklärung an Altwieck | Das Ende der Idylle | Das Grauen und die Barbaren | Der Familie entrissen | Die Odyssee | Lotte, liebe Lotte | Flieg‘! Die Rückkehr nach Altwieck | Die neuen Herrscher | Die Flucht | Gen Westen | Das Wiedersehen | Die Sonne scheint wieder


Das Ende der Idylle

Nach der Gartenbauschule und nach dem Internat Landfrauenschule in Rügenwalde an der Ostsee schickte mein Vater mich auf die Webschule, die sich ebenfalls in Rügenwalde befand. Hier wurden wir Schülerinnen mit viel Theorie und Praxis auf den Beruf einer Lehrbäuerin vorbereitet. Wir lernten weben, nähen und spinnen aber auch rechnen.

Hier entstanden unsere Bauerntrachten des Kreises Schlawe in Hinterpommern. Eine Festtracht, eine Tracht für den Sommer, eine Tracht für den Winter und verschiedene Trachten für alle Gebräuche. Alle dazu benötigten Rohstoffe brachten wir Schülerinnen vom eigenen Hof mit. Schafwolle in braun, grau, schwarz und weiß. Leinenrollen, grau, weiß, fein, grob und gebleicht. Die Leinenblusen und Schürzen waren reine Kunstwerke, bestickt mit Hohlsäumen und Stickereien. Die gewebten Trachtenröcke und Mieder mit eingewebten Muster ebenfalls. Fast waren nach einem Tag voller lernen, spinnen, weben und sticken – auch in Nachtstunden – alle Trachten fertig, da wurden meine Cousine Magdalene Grell und ich zur Schulleiterin gerufen. Wir waren beide aus Altwieck und schliefen im selben Zimmer der Webschule. Vor der Schule stand ein Wagen mit zwei Pferden und einem Kutscher, der von unseren Eltern geschickt war. Er sagte: „Sofort müsst ihr zwei nach Hause kommen! Die Russen kommen in unser Dorf Altwieck!“

Voller Angst machten wir uns auf den 25 km langen Weg. Unsere Betten und viele Kleider, alle Kostbarkeiten auf den Webstühlen, unsere so schönen Trachten, alles blieb fluchtartig zurück. Unsere Hoffnung aber war, dass wir schnell zurück kommen würden!

In Altwieck lieferten wir zuerst Magdalene bei ihren Eltern, Tante Ida und Onkel Franz ab, die in allergrößter Sorge um uns waren. Sie waren zuerst einmal zufrieden, dass wir zu Hause waren. Auf unserem Hof hatten sich viele Nachbarn versammelt, alle mit angstvollen Gesichtern. Meine Eltern und meine Cousine Hanni, die mit ihren fünf Kindern seit ihrer Ausweisung aus der Türkei bei uns waren, weinten und alle dankten dem Herrgott, dass ich zu Hause war. Wir hörten laufend dumpfe Schüsse. Hinter unserem Wald und dem Damerower Forst färbte sich der Abendhimmel purpurrot. Wir liefen alle in unsere große Wiese am Bach, wo wir alles übersehen konnten. Angstvoll schauten wir alle in Richtung Osten. In diesem Augenblick kam mein Bruder mit unserem Ferienjungen Rudi aus Essen mit der Nachricht: „Die Russen sind beim Nachbarn Wetzel.“ Wir alle nahmen Zuflucht in unser Haus. Im selben Augenblick kamen zwei Russenwagen voller russischer Soldaten auf unseren Hof. Sie rissen alle Türen auf, auch alle Schranktüren. Alles Trinkbare tranken sie aus. Alle Uhren, Armband-, Taschen- und Wanduhren rissen sie ab. Aus den Speisekammern und beiden Räucherkammern raubten sie alles Essbare. Große frisch geräucherte Schinken, Speckseiten und alle frisch geräucherten Leber-, Blut- und Dauerwürste nahmen sie mit. Meine beiden Webschulkoffer mit Kleidern, alle anderen gepackten Koffer mit den besten Kleidern und meinen wertvollen Konfirmationsgeschenken luden sie ebenfalls auf den Wagen. Ich war auf einen Schlage um sämtliche privaten Sachen, die mir viel bedeuteten, erleichtert! Alle anderen im Haus hatten viel Arbeit, ihre Wertsachen zu verstecken. Dieser Aufwand wurde mir erspart, denn mir wurde alles direkt, den anderen später, geklaut.

Mein Vater musste zwei von unseren Pferden, unsere Lisa und unsere Lotte, aus dem Stall holen. Beide waren unsere Fohlenstuten, die jetzt vor den Russenwagen gespannt wurden. Nun kam das schlimmste für uns! Unseren Vater wollten die Russen mit Gewalt mitnehmen. Wir alle weinten und flehten: „Lasst unseren Vater hier! Nehmt alles mit.“ Da sprang unsere Janka ein, sie bat auf polnisch und russisch: „Dieser Mann ist auch ein Vater für mich. Ein lieber Chef.“ Ohne meinen Vater, den Wagen hoch beladen, jagten Sie im Galopp mit Lotte und Lisa vom Hof. Wir waren zuerst einmal alle fix und fertig und keiner wusste mehr Rat! Ich aber wusste Rat. Im Dunkeln der Nacht lief ich zur Bürgermeisterei, dem Haus, in dem meine Freundin Luise wohnte, um zu melden, was uns allen gestohlen wurde. Ich stürzte herein und schrie: „Ihr müsst uns helfen! Alles haben die Russen uns genommen, aber nicht meinen Vater.“ Jetzt sah ich erst die im Halbdunkel sitzenden Nachbarn. Alle angstvoll eng bei einander. Luises Vater, unser Freund wusste keinen Rat mehr! Keiner sagte ein Wort. Für mich war es einfach unfassbar. Keiner wollte helfen. Bis jetzt hatte ich noch großen Mut.

Da mir keiner helfen wollte, lief ich im Dunkeln kopflos und alleine mitten zwischen den Russen nach Hause. In unserem Haus lagen inzwischen viele Nachbarn eng aneinander gedrängt. Wir legten Matratzen und Stroh in alle Zimmer – für eine lange Nacht. Diese erste Nacht war die Nacht vieler langen Nächte unter russischen Soldaten. Wer dieses hier einmal lesen sollte, kann es nicht begreifen. Schon gar nicht nachempfinden.

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