Entwurzelt – Flucht aus Pommern -24-

 

Flucht aus Pommern

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Gen Westen -2-

Danach ging unser Fußmarsch weiter. Wir steuerten den nahe gelegenen Bahnhof an und kauften von der Geldspende meiner Tante eine richtige Fahrkarte bis zum Ende der englischen Zone. Auf den Bahnhöfen war noch großer Notstand. Keiner konnte uns genaue Auskunft geben. Schon gar nicht bis in die französische Zone, Lindau am Bodensee. Wir stiegen also in den erstbesten, haltenden Zug ein. Hier im Zug nahm keiner von uns Notiz, keiner beachtete uns! Keiner bedrohte uns. Wir waren in einer friedlichen Umgebung, was wir gar nicht begreifen konnten. Nach einer langen Fahrt, in einem Zug ohne Angst und Schrecken, landeten wir in Frankfurt am Main. Der Zug hielt, Endstation! Alle Flüchtlinge rechts raus. In einem großen, ehemaligen Luftschutzbunker bekamen wir Nachtquartier. Amerikanische Soldaten wiesen uns ein. Jeder von uns bekam eine Schlafstelle mit weichen warmen Wolldecken. Unsere fünf Kinder bekamen in bunten Bechern süße Milchschokolade. Zwei freundliche, lustige, farbige Soldaten brachten uns ein Riesentablett mit frischen, weißen Weißbrotschnitten mit dicker Leberwurst obendrauf. Hanni und ich bekamen eine große Kanne Bohnenkaffee dazu. Wir konnten nur staunen und fingen alle an zu lachen, und die beiden Soldaten lachten mit. Wir bedankten uns immerzu und sagten immerzu: „Hier Scharaffenland“. Sie hatten uns wohl nicht verstanden, sie holten uns noch ein großes Tablett Leberwurstschnitten und den Kindern Milchschokolade. Sie zeigten uns „viel essen, viel mitnehmen!“ Sehr lustig machten sich beide amerikanische Soldaten über die sehr hässliche Stoffpuppe, die Ilse sehr festhielt. Wenn sie die Puppe anfassen wollten, schrie Ilse so laut sie konnte. Darüber hatten die beiden viel Spaß, und wir lachten alle mit. Sie liebten Kinder und wollten mit ihnen spielen. Von Altwieck bis hier in Frankfurt am Main hatte Ilse ihre hässliche Stoffpuppe nicht aus ihrer kleinen Hand gegeben. Im Bauch dieser Puppe war Hannis Goldschmuck, das einzigste, was sie gerettet hatte.

Zwei Tage wurden wir hier im amerikanischen Aufnahmelager, Bunker, bestens betreut. Ein GROSSES DANKESCHÖN!

Von hier aus, neu gestärkt, noch frisches Weißbrot als Wegzehrung, marschierten wir auf den nächstliegenden Bahnhof. Wir erkundigten uns, wann und welcher Zug uns nach Lindau am Bodensee bringen würde. Niemand konnte uns eine genaue Antwort geben. In den ersten Zug, der ankam und hielt, stiegen wir ein. Eine Streife amerikanischer Soldaten polterte durch den Waggon, aber sie beachteten unsere fünf Kinder und uns beide Frauen nicht weiter. Keiner wollte noch was von uns, wir blieben unbehelligt. Wir rollten und rollten, gen Süden. Irgendwo mussten wir ja landen.

Wir landeten in Sonthofen, in Bayern. Sonthoven war der Kopfbahnhof der französischen Zone. Hier war Endstation der amerikanischen Zone. Fraglich war nur, ob die Franzosen hier auch so feindselig waren wie ihre Behörde in Berlin? Klar war uns aber, dass wir nicht mehr zurück geschickt werden konnten. 

Wann ein Zug nach Lindau fahren würde, konnte uns niemand sagen! Also warteten wir geduldig und genossen die Schönheit der Landschaft. Unsere Köpfe wurden frei. Wir sahen das Schöne. Wir ließen uns berauschen von einer so friedlichen, herrlichen Natur. Es schneite, dicke Schneeflocken verzauberten auch uns. Alle fünf Kinder freuten sich und wir freuten uns mit ihnen. Es war ja in 10 Tagen Weihnachten, daran hatten wir noch gar nicht gedacht. Dicht neben dem Bahnhof war eine Bäckerei. Die Kinder rochen das frischgebackene Brot, sie hatten Hunger. Hanni wollte, ohne Brotmarken, ihr Glück, ein Brot zu erwischen, probieren. Der Chef stand mit einem „Bierfassbauch“, in zartweißer Montur, vor seinem Laden, so recht wohlgefällig und mit sich zu frieden. Sie brachte ihr Sprüchlein vor, weshalb wir keine Brotmarken besäßen! Sie bat ihn höflich, uns ein Brot nur gegen Bezahlung zu geben. „Wo denken´s hin, was männen‘s denn? Mir haben selber nit genug“, und das wagte er zu behaupten bei seiner Leibesfülle. Hanni zuckte die Achseln und war im Weggehen, da nahm eine Frau, die neben ihr im Laden stand, eine Brotmarke aus ihrer Tasche und gab sie Hanni mit sehr freundlicher Gebärde. So, ein Stück Brot hatten wir nun, und in einer Gastwirtschaft ließen wir uns eine heiße Suppe dazu geben. Auf dem Bahnhof wurde es lebendig, Leute stiegen in den schon stundenlang stehenden Zug ein und wir stiegen mit ein. Der Schaffner versicherte uns, im richtigen Zug Richtung Lindau am Bodensee zu sitzen. 

Ab ging die Fahrt, durch eine herrliche, weiße Winterlandschaft, unserem Endziel Lindau am Bodensee entgegen. Keiner nahm Notiz von uns, niemand wollte was von uns. Wir brauchten keine Angst mehr haben! Alle Kinder freuten sich, nach einem langen, furchtbaren Jahr, ihren Vater wiederzusehen. Kurz vor unserem Endziel nahm meine Cousine mich in den Arm und sagte zu mir: „Was jetzt kommt, darf uns zwei niemals trennen.“ Ich verstand ihre Worte nicht, es war für mich doch selbstverständlich, sie war meine große Schwester. Wir waren doch gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen. Ich war aber noch viel zu jung, ein junges Mädchen, um sie verstehen zu können. 

Sie war Ehefrau und Mutter von fünf Kindern und sie war körperlich am Ende und seelisch noch viel mehr. Sie hatte keinerlei Reserven von Initiative mehr. Sie hatte nur noch einen Gedanken, die fünf Kinder dem Vater zu übergeben, denn ihre Kraft sei am Ende. Er, der Vater, solle nun ihre Rolle, nach einem grauenhaftem Jahr übernehmen. Ich war tief erschrocken, denn für mich war sie ein Vorbild. Eine Heldin, die uns bis hier lebendig durchgebracht hatte. Jetzt brauchte sie Hilfe an erster Stelle. Auch die fünf Kinder und ich spürten unseren sehr schlechten körperlichen und seelischem Zustand. 

LINDAU am BODENSEE, Hauptbahnhof. Alles aussteigen! Wir hatten unser Ziel erreicht.

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