Entwurzelt – Flucht aus Pommern -22-

 

Flucht aus Pommern

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Die Flucht -4-

Hartmut war der erste, der seine Oma erkannte. Jetzt schrien alle 5 Kinder, „Oma, Oma. Unsere Oma ist da!“ Als sie von ihnen hörte, dass auch wir, Hanni und ich, hier wären, weinte sie nur. Kein Wort kam über ihre Lippen. War das ein Wiedersehen! Ein Wunder war geschehen. Aus Weinen wurde Lachen. Es folgten sehr lange Gespräche. Alles, von Altwieck bis Berlin. Nun folgte die nächste, freudige Überraschung, Hannis Überseekoffer, den wir noch in allerletzter Minute vor dem Einmarsch der Russen, von Altwieck nach Berlin, Florastraße 22, per Bahn, geschickt hatten, stand unberührt im unteren Keller. Der kleine dunkle Kellerraum war verschlossen. Kein Russe hatte ihn gefunden. Das war unsere zweite freudige Überraschung. In dem großen Koffer waren alle Sommerkleider der Kinder, türkischer Tee und einige türkische Zigaretten. Den Überseekoffer hatte Hanni von Istanbul zur Aufbewahrung nach Altwieck geschickt. Alle 5 Kinder wurden davon neu bekleidet. Auch für mich fanden wir etwas zum anziehen. Das war eine Wohltat, saubere Wäsche auf dem Körper zu haben! Mein bisheriges Kleidungsstück, den abgerissenen Schwalbenschwanz und die Lumpen des rotkarierten Bettbezuge, schmissen wir auf eine Bombenhalde. Wir waren wieder ansehbar! 

Mit meiner Tante beratschlagten wir, wie soll es nun weitergehen? Wir hatten keine Lebensmittelmarken. Wer konnte 7 Personen in Berlin verpflegen und eine Unterkunft geben? Alle Berliner Nachbarn und Freunde meiner Tante kämpften selber ums Überleben. Das größte Problem war mein rot und blau geschwollenes Bein. Durch das Treten der zwei Polinnen in Scheune hatte ich Schmerzen. Nun aber konnte ich vor Schmerzen nicht mehr laufen, was nun? Wir mussten so lange in Berlin eine Schlafstelle haben, bis mein Bein wieder laufen konnte. Meine Tante und meine Cousine schafften es, auf irgend einem Hausboden ein Quartier zu bekommen. Mein Bein wurde hoch gelagert und von meiner Tante ununterbrochen gekühlt. Meine Cousine ging auf Jagd, um etwas Essbares zu finden. Dank ihrer türkischen Zigaretten konnte sie etwas tauschen. Die Kinder bekamen die Aufgabe, unter den Linden auf der Straße kleine Zweige aufzusammeln. Direkt vor mir stand ein kleiner verrosteter Kanonenofen. Ich hatte die Aufgabe, mit diesen kleinen Zweigen ihn am brennen zu halten. Hanni tauschte einen Kochtopf und einen kleinen Sack Kartoffeln. Mehr als einen halben Tag dauerte es, bis ich einen Topf Kartoffeln darauf gar bekam. War das ein Genuss: Heiße, weiche Kartoffeln und Hannis ertauschtes Schweinemalz! Wir 8 Personen waren einen Tag, in dem verbombten Berlin, gesättigt. Eine ganze Woche war vergangen, jeden Tag, dieselbe Jagd ums Überleben. Dank meiner Tante – ihre kalten Umschläge machten mein Bein gesund. Es schwoll ab und ich konnte wieder laufen. Wir beschlossen, alle 8 raus aus Berlin, aber sofort. 

Meine Tante fühlte sich auch für mich verpflichtet, sie machte mir ein Angebot. Sie sagte: „Dein Vater, mein Bruder, hat keinen Bauernhof in Altwieck-Pommern mehr. Du kommst mit mir mit und in unserer Arztpraxis in Zörbig, dort wirst du ausgebildet.“ Beide Frauen stellten mir die Entscheidung, Lindau am Bodensee oder Zörbig. Ich entschied sofort, ich gehe mit Hanni und den 5 Kindern.

Das war ein großes Abschied nehmen! Hanni suchte noch die französische Kommandantur in Berlin wegen einer Einreisegenehmigung auf. Der Offizier zeigte keinerlei Verständnis und ließ sie mit unhöflichen Worten vor die Tür setzen. So fuhren wir also ohne Erlaubnis nach Lindau am Bodensee. Meine Tante hatte uns etwas Geld gegeben und wir konnten eine regelrechte Fahrkarte für jeden von uns kaufen, wenn auch nur bis Magdeburg. Weiter ging es nicht. Da hörte die russische Zone bald auf und ging irgendwo in die englische Zone über. Aber wo? Wir hatten keine Ahnung! Weit vor Magdeburg hielt der Zug, Endstation der russischen Zone. Alle Insassen mussten den Zug schnell verlassen. Nun begann ein langer Fußmarsch. Wir nahmen beide kleinen Mädchen auf unsere Rücken, die drei größeren an die Hand und marschierten immer der Landstraße entlang, Richtung englische Zone. Aber wo war sie?

Auf der Landstraße gesellten sich noch eine Ostpreußin mit zwei Halbwüchsigen zu uns. Nun waren wir schon 10 Personen, als ein russischer Wachposten, der wohl die Landstraße zu beobachten hatte, uns einholte. Er verlangte unsere Papiere, die wir nicht hatten. Wir sieben Personen, Hanni, unsere fünf Kinder und ich, mussten ihm folgen. Er brachte uns in ein großes, gepflegtes Haus ,wo ein vom Scheitel bis zur Sohle geschniegelter russischer Offizier regierte. Er stellte sich in ganz erhabener Pose vor uns auf, knallte mit seiner Reitpeitsche auf den Tisch und ließ uns seine ganze Erhabenheit spüren. Seinem Muschkoten gab er knappe Anweisungen, uns raus zu befördern. Wir begriffen gar nichts mehr! Wir durften weiter marschieren!

So etwas hatten wir noch nicht erlebt – was für ein gepflegter, geschniegelter Machthaber mit einem guten Herzen! Nach längerem Fußmarsch wurden wir müde und hungrig, auch fing es an, dunkel zu werden. Wir mussten was Essbares und eine Unterkunft finden. In einem großem Pfarrhaus, schon richtig mit weißen Gardinen an den Fenstern, ein milder Lichtschein dahinter! Zuversichtlich klopften wir an, und berichteten einer blonden, schon gut angezogenen Pastorentochter unser Anliegen. Hanni bat für eine Nacht um eine Schlafstelle in ihrem großen Pfarrhaus. „Ach, das tut mir leid. Nein bei uns geht‘s wirklich nicht“, sagte diese Maid, „gehen Sie 3 Häuser weiter, da ist ein Bauer, der hat einen Heuboden, versuchen Sie es dort. Dort wird es eher gehen.“ Damit war sie uns 7köpfiges, hergelaufenes Flüchtlingsvolk los. Wir versuchten unser Glück beim Bauern, der seine Scheunentüre öffnete und uns freundlich darin ein Schlafquartier zur Verfügung stellte. Die Kinder nahmen wir in unsere Mitte und kuschelten uns ins warme Stroh. Noch bevor wir einschliefen, erschien uns ein guter Geist. Der freundliche Bauer mit warmer Milch und Brot. Nun waren wir satt und warm, Dankeschön lieber Landmann. Am nächsten Morgen bekamen wir noch einmal heißen Kaffee und der Bauer ein paar türkische Zigaretten von Hanni. Auf ging es, der englischen Zone zu! Wir staunten, vorm großen Pfarrhaus erwartete uns die blonde Pfarrerstochter. Sie hatte zwei herrliche große Birnen in der Hand, die sie den Kindern schenkte. Sie erkundigte sich, ob es beim Bauern geklappt hätte. Wir spürten ihr schlechtes Gewissen, was sie mit den Birnen ins gute Licht rücken wollte. Wir bedankten uns sehr höflich. Sie zog etwas beschämt ab, und wir marschierten frohen Mutes weiter. Richtung englische Zone.

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