Leben nach dem Tod
mementomori-frau-mit-kopf
  • Leben nach dem Tod

Alt werden

Wenn Menschen alt werden, verändern sie sich. Der Zahn der Zeit hinterlässt seine Spuren. Das frische Aussehen der Jugend ist dahin, die Haut wird faltig, das Haar wird grau oder fällt aus, genau wie die Zähne. Die Leistungskraft lässt mehr und mehr nach. Das, was früher wie selbstverständlich von der Hand ging, ist nicht mehr oder nur noch mit Anstrengung möglich. In jungen Jahren kann man sich nur schwer vorstellen, dass wir einmal ein schwächlicher Greis sein werden.
Aber auch der Intellekt des Menschen verändert sich. Wir häufen im Laufe der Jahre Wissen und Erfahrungen an. Unsere Entscheidungen im Leben werden durch unser Alter beeinflusst. Unsere zunehmende Lebenserfahrung macht uns "weiser" und ruhiger.

Wann ist man eigentlich alt?
Junge und alte Menschen scheinen grundverschieden zu sein. Aber ist dem wirklich so? Nicht ganz, denn da ist etwas, das allen gemeinsam ist und immer gleich bleibt: unser Bewusstsein - unser wahrnehmendes, EIGENTLICHES ICH.

Hast du schon mal nach vielen Jahren ein Klassentreffen gehabt? Bei so einem Wiedersehen werden alte Geschichten hervorgeholt, und in Kürze schwelgt man in Erinnerungen. Dann erzählt man sich emotionale Dinge wie: "Weißt du noch, die Jutta? Das war ja auch ein heißer Feger! Die ist doch mit dem oder dem gegangen. Ich war so unheimlich eifersüchtig! Oder Gudrun, die war ja auch so süß, mit der hätte ich mich fast mal geküsst." Und so weiter und so weiter und so weiter. Man unterhält sich dabei wie selbstverständlich über ehemalige Mitschüler und Jugendlieben und ist so in der anderen Welt vertieft, dass man dabei nicht merkt, dass man - ÜBER KINDER REDET.

Diese Selbstverständlichkeit hat einen Grund: In deinem Innern BIST du das Kind, bist du der gleiche Mensch, der du im Leben immer warst und sein wirst!

Aus deiner Erinnerung weißt du, dass man sich als Kind genauso vollwertig fühlte wie als Erwachsener, man jedoch in der Regel mit seinen Problemen nie ernst genommen wurde.

Sieh dir deine Eltern an. Sie erscheinen dir alt. Sie waren ja schon immer alt. Wie Eltern eben so sind. Eltern sind Eltern, da denkt man nicht weiter drüber nach.
Doch vor kurzem waren sie so jung wie du jetzt. Meinst du WIRKLICH, dass euer Innerstes so verschieden aussieht? Wenn DU dreißig Jahre älter bist, wirst du dann anders als jetzt sein? Wirst du die Welt anders, als "alte Eltern" wahrnehmen? Natürlich nicht. Dein Erleben dieser Welt mit all seinen Gefühlen oder Empfindungen werden immer gleicher Art sein, sie sind zeitlos. Deine Eltern sind nicht von Geburt an "Vater" oder "Mutter" gewesen, sie sind so wie du.

Gehe noch eine Generation zurück - sieh dir deine Großeltern an, deine Urgroßeltern. Sie sind den gleichen Weg gegangen, waren Kinder und Erwachsene wie du. Bald wirst du so alt wie sie sein. Die jüngeren Menschen werden dich dann vielleicht meiden - weil du ihnen zu alt, zu langsam, zu schwierig, zu altmodisch, zu hässlich bist, und vielleicht nicht gut riechst. Für dich bist du immer du selbst geblieben. Doch das sehen die Jungen nicht. Deine Erfahrungen und Meinungen sind für sie uninteressant, denn du scheinst aus einer anderen Welt zu kommen, bist Schnee von gestern. Du aber wirst versuchen, ihnen zu erklären, dass du - wenigstens im Innern - der alte geblieben bist. Doch sie werden dich nicht verstehen.
Erkennst du die ewige Tragik der Menschen-Generationen?

Erkenne das Kind im Greise, und sieh auch den Greis im Kind. Beide sind eins. Betrachte deine eigene Geschichte, du bist dein bestes Beispiel.

Vielleicht magst du hierzu auch mein Gedicht "Geh nicht vorbei" lesen.

Junge Menschen lästern gerne über Ältere und deren Wehwehchen. Spätestens mit dem 40. Geburtstag ändert sich das. Mit den obligatorischen Spaß-Geschenken wie Kukident, ABC-Pflaster und Hämorrhoiden-Salbe wird ihnen klargemacht, dass es auch für sie von nun an bergab geht. Ich selbst gehe rasant auf die Fünfzig zu. Meine Zähne hab ich noch und auch die kleinen blauen Pillen brauche ich noch nicht. Allerdings ist doch einiges im Argen. Wenn ich mich auf den neusten Fotos betrachte, kann ich nicht glauben, dass der alte Mann dort ich sein soll!

Meine Haare wandern langsam aber beständig vom Kopf in Richtung Nase, Ohren und Rücken, ein abendlicher Whisky bedankt sich morgens mit einem dicken Kopf und die meiste Körperkraft am Tag geht für Baucheinziehen drauf. Sport-Versuche à la "ich wills noch mal wissen" enden prinzipiell mit zwei Wochen Schmerzen, und das heiße Körnerkissen abends im Bett wird immer mehr zu einem galaktischen Inferno der Freude. Auch die Vergesslichkeit ist ein sicheres Prädikat für das Älterwerden. Ab einem gewissen Alter fängt man ein Gespräch vorsichtshalber mit den Worten an: "Ich habe dir ja schon erzählt, dass ...". Das hat mir schon manche Peinlichkeit erspart. Die Ratlosigkeit vor dem offenen Kühl- oder Geschirrschrank ist natürlich Standard. Und langsam wird es Zeit, mich mit dem Thema Gleitsichtbrille auseinanderzusetzen.

Mein 13 Jahre jüngerer Bruder genießt es auf Familienfeiern, über die größer werdende Haar-freie Fläche auf meinem Kopf Protokoll zu führen - lautstark, versteht sich. Dass sich auch die Altersflecken dort oben vermehren, freut ihn ganz besonders. Gott sei Dank ist die Natur gnädig mit den Menschen, denn mit der Anzahl von Altersflecken wächst auch die Weisheit. Man steht über den Dingen, und so lache ich meistens mit. Meinem Bruder ist nicht bewusst, dass er gar nicht über mich, sondern über sich selbst lacht. Er verlacht die Natur, welche ihn unwiderruflich als nächstes im Visier hat. Herrlich, wie gerecht alles geregelt ist.

Älter werden hat jedoch wie gesagt nicht nur Nachteile. Man wird ruhiger, muss sich nicht mehr über alles aufregen. Man lernt, dass man mit Bescheidenheit besser durchs Leben kommt, dass Glück eine Sache des Kopfes ist. Die Dinge von oben zu betrachten, das Wichtige im Leben zu erkennen, das ist das Privileg des Alters. Wenn man jetzt den Körper der Jugend dazu hätte, wäre es kaum auszuhalten.

Die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen, die vor 50 Jahren in Deutschland geboren wurden, beträgt 68 Jahre. Ein heute (2012) geborener Säugling darf auf 10 Jahre mehr, d.h. auf 78 Jahre hoffen. Frauen sind noch besser dran, denn sie haben generell einen Bonus von 6 - 8 Jahren. Dies sind natürlich nur Durchschnittswerte, denn wir wissen, dass man heute schon mal 108 werden kann.

Unglücklicherweise wurde ich 1964 geboren und komme nicht in den Genuss der 10+. Wenn ich die Statistik zugrunde lege, habe ich also noch 20 Jahre vor mir. Hmm, ganz schön überschaubar. Nicht gerade ein Grund zum Jubeln. Zumal die Zeit seit einigen Jahren sowieso im Affentempo davongaloppiert. Wenn ich als Vergleich 20 Glasmurmeln vor mir auf den Tisch lege, wird das ganze noch dramatischer. 20 Murmeln sind - NICHTS! Wenn ich bedenke, dass jede dieser Murmeln einen Frühling darstellt, kann man schon melancholisch werden.

Ich frage mich oft, was ältere Menschen empfinden, wenn sie sich ihren verbliebenen Lebens-Rest vor Augen führen. Verdrängen sie die Tatsache der immer schneller schrumpfenden Lebenszeit? Wie lebt man, wenn man ein Alter erreicht hat, in dem es jederzeit "passieren" könnte? Ich denke, es gehört eine gehörige Portion Mut dazu, die letzten Jahre unseres Lebens zu bestehen. Allein deswegen zolle ich älteren Menschen meinen vollsten Respekt.

Wenn ich abends auf dem Nachhauseweg an unserem Pflegeheim vorbeikomme, versuche ich meistens einen Blick durch die Glasfronten der oberen Aufenthaltsräume zu erhaschen, wo die Heimbewohner an kleinen Tischen zusammensitzen. Dann frage ich mich, ob ich auch mal dort sitzen werde. Ich hoffe nicht. Ich kann mir denken, wie man ist, wenn man dort lebt. Ich möchte, wenn ich alt bin, nicht hilfsbedürftig sein, möchte mir nicht von fremden Menschen den Allerwertesten abwischen oder die Windel wechseln lassen. Ich möchte mein Essen selbst essen können, und zwar ohne Lätzchen, nicht im Bett liegend. Leider sieht die Wirklichkeit meist anders aus. Ist das der Preis für die verlockende Möglichkeit, heute viel älter werden zu können als früher?

Der alte Mann

Feierabend, Wochenende,
überall herrscht reges Leben.
Wo man hinsieht, wimmelt es
von Menschen, die nach Hause streben.

So fahr auch ich, halb wie im Schlafe,
die immer gleiche Strecke heim,
und schau dabei dem Treiben zu -
das Auto kennt den Weg allein.

Da trifft mein Blick eine kleine Gestalt,
auf Höhe der Schule angekommen,
von den heimwärts tobenden Kindern wird
sie jedoch gar nicht wahr genommen.

Den alten Mann, ich kenne ihn,
eigentlich nur vom Vorüberfahren.
Doch ist sein Bild mir so vertraut
geworden in den letzten Jahren.

Die Hose ist zu kurz geraten,
sein Mantel auch schon etwas weit,
der Hut, er ist von gleicher Farbe,
und sah schon eine bess're Zeit.

Dünn wirkt der Alte und zerbrechlich,
vorsichtig geht sein tippelnder Schritt.
Mit der Hektik dieser lauten Welt
kommt er längst schon nicht mehr mit.

Seine müden, blassen Augen scheinen
stumm nur vor sich hin zu blicken.
Nichts verraten sie dem Betrachter,
was er erlebt, was er gelitten.

Seine Zeit, die war eine andere,
und scheint ihm ewig schon entfernt,
jetzt ist des Lebens er so müde,
denn Freude hat er längst verlernt.

So viele hat er sterben sehen,
die Frau, die ging ihm längst voraus,
er lebt in der Erinnerung,
und Heute ist ihm nur noch Graus.

Er rührt mich an, der alte Mann,
und dass wohl niemand an ihn denkt,
drum hab ich ihm so oft im Geiste
schon manches freundlich Wort geschenkt.

Im Spiegel wird er immer kleiner,
bald ist von ihm nichts mehr zu sehen.
So hab ich es auch heut verpasst,
mit ihm ein Stück des Wegs zu gehen.

Wohin er geht und wer er ist,
das werd' ich wohl nie wissen.
Doch ist er eines Tages fort, ich weiß -
ich werde ihn vermissen.

Andreas Böttcher

 

 Zum Seitenanfang

Impressum | Datenschutzerklärung | Cookie-Richtlinie | Cookie-Einstellungen ändern
Copyright © Margitta Böttcher Internetdienstleistungen, 2005-2024