Entwurzelt – Flucht aus Pommern -26-

 

Flucht aus Pommern

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Das Wiedersehen

Nach einem Jahr und drei Monaten bekam ich vom Deutschen Roten Kreuz endlich die erwartete, freudige Nachricht: „Alle, lebend, per Schiff über die Ostsee in Holstein gelandet“. Sie brauchten jetzt sofort auch meine Hilfe. Hanni sagte: „Deine Eltern brauchen jetzt deine Hilfe mehr als wir hier, du musst sofort abfahren!“

Schon am nächsten Morgen fuhr ich nach Marne in Schleswig-Holstein. Der Abschied von meiner lieben Cousine und den lieb gewonnenen fünf Kindern erleichterte sich durch unser gegenseitiges Versprechen, „wir sehen uns bald wieder.“ 

Meine Eltern, meinen Bruder und Rudi musste ich lange suchen. Sie waren nicht in Marne, einer Kleinstadt, sondern sie waren bei einem kleinen Bauern, der Familie Numsen, in Volsemenhusen, 8 km von Marne entfernt. Wegen Überfüllung waren sie dort zwangseingewiesen. Über einem Heuboden musste ich eine Holzleiter hochsteigen und fand sie in einem ehemaligen Taubenschlag wieder. Dieses Wiedersehen war unbeschreiblich. Nur weinen, keine Sprache mehr. Uns alle überkam ein großes Dankgefühl. Lebend konnte ich sie, nach einem Jahr und drei Monaten, in den Arm nehmen. Aus den Schrecken des Krieges, der Flucht über die Ostsee, ja der Hölle waren sie entkommen! Jetzt waren sie in Freiheit! Wir begriffen, LEBEN war Nummer 1. Die Armut war irgendwie zu bewältigen.

Mein Vater, auch meine Mutter, waren total ausgeplündert, krank und abgemagert. Rudi und Heinz hatten alles besser überstanden. Rudis Mutter kam aus Essen und holte nach langem Bangen und Warten endlich ihren Sohn nach Essen zurück. Alle waren total mittellos. Die Unterbringung meiner Eltern war nicht menschenwürdig. Auf sieben Stellen regnete es durch. Holstein konnte den Flüchtlingsstrom aus dem Osten, zu der Zeit, nicht bewältigen. Tante Amanda, Onkel Otto, Ruthild und Horst hatten dieselbe menschenunwürdige Unterbringung. Ein kleines Zimmer, in einem kleinen Dorf Kattrepel, 12 km hinter Marne. Was sie noch mit einem bettlägerigen, alten Mann teilen mussten. Auch sie waren alle total ausgeplündert und total mittellos. Die große Frage: „wie sollte ich, vom schönen Bodensee kommend, hier helfen?“ Behördengänge halfen nicht, aber das Arbeitsamt in Marne half mir! Nach Schilderungen meiner begonnenen Ausbildung in Pommern und dem Mittagstisch in Lindau bekam ich bei Frau Oberstudienrätin Lotte Thomsen, in Marne Süderstraße 13, einen Arbeitsplatz als Wirtschafterin. Junge Lehrer, auch Schüler, speisten an ihrem Mittagstisch, der Koch wurde ich. Ein Lehrmädchen bekam ich zur Hilfe. Für die Küche, das Haus, den Garten, das Kleinvieh, das Einkaufen und Abrechnen übernahm ich die Verantwortung. Die Lebensmittel waren äußerst knapp bemessen, aber irgendwie bekam ich immer ein schmackhaftes Menü auf den Mittagstisch. Dank dem Mittagstisch in Lindau. Frau Thomsen war kinderlos, ihr Ehemann war kurz vor Kriegsende gefallen. Wir zwei verstanden uns und wurden richtige Freunde. Meine Eltern lud sie ein, sich in ihrem gepflegtem warmen Haus zu erholen. Mich nahm sie zu Konzerten und in das Theater mit, und die Garderobe dazu war von ihr. Je länger ich bei ihr war, desto besser ging es auch meinen Eltern. Durch ihre Mithilfe. 

Meine Eltern sammelten auf den Feldern Bohnen und Ähren. Mein Vater half bei einer Dreschkolonne. Der Lohn: „Körner“. Die gemahlenen Körner, Haferflocken und Mehl, waren eine große Bereicherung auf unserem Mittagstisch. Meine Eltern und mein Bruder arbeiteten stundenweise beim Bauern Numsen für Lebensmittel, von denen sie uns sehr oft frische Milch und Eier mitbrachten. Frau Thomsens Garten hielt mein Vater in Ordnung. Wir halfen uns gegenseitig. Wir wurden eine richtige Familie. Den folgenden sehr kalten, eiskalten Winter brauchten meine Eltern nicht frieren. Sie saßen am warmen Kachelofen, in Frau Thomsens Wohnzimmer. Ich durfte jetzt „Lottchen“ zu ihr sagen, und sie stellte mich überall als ihre Tochter „Helmi“ vor. Wir hatten richtige, dauerhafte Freundschaft geschlossen. Unsere Freundschaft wurde sehr bald auf eine harte Probe gestellt.

Durch Zufall, einen Glücksfall, lernte ich einen aus der Gefangenschaft kommenden, jungen Mann, mit großen Buchstaben (PW – Gefangener des Krieges) auf seinem Rücken, kennen. Seine Ausstrahlung, sein Gang, seine Haltung. Das war es. Genauso stellte ich mir meinen zukünftigen Ehemann vor. Er war arm wie eine Kirchenmaus, total abgemagert. Als er mich fragte, „sind sie Hamburgerin?“, sagte ich „nein!“ Als er mich fragte, „sind sie Holsteinerin?“, sagte ich „nein! Als er mich fragte, „sind sie Pommerin?“, da sagte ich „JA!“ 

DAS WAR DER BEGINN UNSERES GEMEINSAMEN LEBENSWEGES.

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