Entwurzelt – Flucht aus Pommern -8-

 

Flucht aus Pommern

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Der Familie entrissen -2-

Wieder hielt der Zug. Wir hörten, wie die Waggontür von außen aufgebunden und geöffnet wurde. Wir zwei standen direkt am Anfang der Tür. Die Tür ging auf, mit Lampen wurden die Gesichter abgeleuchtet und im Eiltempo wurden die nahe stehenden Mädchen aus dem Waggon herausgerissen. Auch wir beide, meine Freundin und ich, waren dabei. Der Zug setze sich in Bewegung – ohne uns – in Richtung Osten. Wir wurden von grölenden Soldaten in ein Haus getrieben, wo mehrere Russen laut grölend tanzten. Wir mussten aus großen Gläsern mit ihnen Wodka trinken. Ob wir konnten, spielte keine Rolle. Der Wodka wurde uns eingeflößt. Ab hier war für uns Funkstille. Wir wussten nichts mehr.

Wie lange wir bis zum Aufwachen gelegen haben, kann ich nicht mehr sagen. Wir wachten auf mit großem Übelsein und dauerndem Erbrechen. Wo wir waren, wussten wir nicht, auch nicht ob es Morgen oder Abend war. Um uns herum war es unheimlich still. Keine russischen Soldaten mehr. Auch der lange Güterzug war abgefahren. Wir waren wie gelähmt, aber wir merkten, wir konnten alle Glieder bewegen. Als wir aufstanden, sahen wir die Eisenbahngleise, die nach Osten führten, und sofort kam uns der Gedanke, sofort zu verschwinden. Immer in der Nähe der Eisenbahngleise, nach Hause. Vor Angst, Schlechtsein und der Panik im Nacken kamen wir nur sehr langsam voran. Ein russischer Panjewagen mit einem russischen Soldaten holte uns ein. Es war wie ein Wunder. Auf dem Wagen saß wieder derselbe russische Soldat, der uns schon einmal versprochen hatte, uns nach Hause zu fahren. Er musste täglich junge Mädchen einfangen. Er erkannte uns, hielt an und wir stiegen wieder auf seinen Wagen. Diesmal fahre ich euch nach Hause versprach er uns. Wir sahen in ihm unseren rettenden Engel. Wie lange wir auf seinem Wagen, unter seiner Decke saßen, weiß ich nicht mehr. Wir schauten raus, als er auf einmal mit großen Galopp fuhr. Überall auf den Straßen sind Kontrollen sagte er, deshalb wollte er so schnell es ging mit uns in den Wald fahren, um sicher zu sein. Es dauerte nicht lange, da hatte uns schon ein russisches Kontrollauto entdeckt und unser Helfer bekam großen Ärger. Wir beiden Mädchen mussten ins Kontrollauto steigen und wurden im Eiltempo zur russischen Kommandantur nach Zanow gebracht. 

In der Kommandantur im Rathaus wurden wir verhört. Immer wieder dieselben Fragen. „Wo? Spionage! Welcher Beruf? Welche Partei?“ Das Verhör dauerte sehr lange, da immer wieder andere russische Offiziere uns verhörten. Wir wurden für schuldig erklärt und mit Gefängnishaft für mehrere Wochen bestraft. Bei Nichteinhalten der Verordnungen drohte uns die Verbannung nach Sibirien. Wir waren nicht mehr in der Lage, alles zu begreifen, unser Verstand nahm einfach nichts mehr auf. Los ging es mit russischer Bewachung die Treppen herunter, ins Rathausgefändnis. Die Tür wurde aufgeschlossen, wir bekamen einen Stiefeltritt und landeten in einer fast dunklen Zelle. Hinter uns wurde die Zellentür wieder abgeschlossen. Wir standen wie gelähmt und wagten uns nicht zu rühren. Plötzlich sahen wir mehrere Umrisse von Menschen. Hier waren also noch mehrere Menschen drin! Fast neben uns stand eine ältere Frau, die an zu sprechen fing: „Ich bin total unschuldig! Es ist ein Missverständnis, dass ich hier eingesperrt bin. Ich habe nichts mit Verbrechern zu tun! Hilfe, Hilfe.“ Jetzt fingen alle Zelleninsassen an zu lachen und zu heulen. Sie schrien: „Wir sind alle keine Verbrecher! Wir brauchen Hilfe!“ Gemeinsam schrien jetzt alle mit: „Hilfe, Hilfe!“ Wir beruhigten die alte Frau und stellten fest, dass alle hier in der Zelle in derselben pikieren Lage waren. Die Tage und Nächte, die jetzt folgten, waren die Hölle, am allerschlimmsten aber die langen Nächte. Meine Freundin und ich lagen in der hintersten Ecke auf einer Holzpritsche, eng umschlungen. Nachts kamen die russischen Horden herein und vergewaltigten die Frauen die nahe der Tür lagen. Die ganzen Nächte nur schreien und Hilferufe! Auch wir beide in der Ecke wurden von einem älteren Mann, er war kein Russe (uns wurde später erzählt, er sei ein deutscher Familienvater von drei Kindern), sehr belästigt. Wir beide kratzten ihm sein Gesicht blutig, bissen und versuchten ihn mit unseren Fingern in die Augen zu stechen. Er ließ von uns ab. Am nächsten Morgen musste er Spießrutenlaufen. Alle Zelleninsassen erkannten ihn an seinem blutigem Gesicht. Er war den russischen Barbaren gleich. 

Jegliches Zeitgefühl war uns verloren gegangen! Wie viel Tage und Nächte wir in dieser Hölle zubrachten? Waren es sieben oder mehr? Wir hatten kein Zeitgefühl mehr. In die Wände kratzen wir die Tage, wenn es hell wurde. Jede Nacht kam unter anderen ein Russe mit dem Namen Siegesmund in unsere Zelle. Er trieb sein Unwesen mit einer dicht an der Tür liegenden Frau, die nur noch weinte und total abwesend war. Noch heute kann ich den Namen Siegesmund nicht mehr hören. In der Zelle stand ein rostiger Eimer mit Wasser zum Trinken. Brot wurde durch die Zellenklappe geschoben. Oben in der Zellendecke war ein kleines vergittertes Fenster, wo ab und zu Stiefel auf und ab schritten. Wir beschlossen jetzt alle zusammen, wenn wir wieder Stiefel sahen, so laut zu schreien und zu brüllen, dass uns jemand hier unten bemerken musste!

Gemeinsam brüllten wir so laut wir konnten, tatsächlich, unsere Zellentür wurde aufgeschlossen! Wir stürmten am Posten vorbei, alle in verschiedene Richtungen. Meine Freundin und ich hielten uns fest an der Hand. Wir liefen so schnell wir konnten zwei Treppen hoch direkt ins obere Rathaus. Hilfeschreiend liefen wir um unser Leben direkt in die vollbesetzte russische Kommandantur. Soldaten griffen uns auf und brachten uns sofort zu russischen Offizieren, die uns in einen Raum führten, wo wir wieder still wurden. Es gab ein großes Dementi zwischen den Russen, nur uns beide fragte keiner! Wir wurden abgeführt. Raus aus der Kommandantur. Raus aus dem Rathaus. Vor dem Rathaus wurden wir in ein Militärauto geladen, das uns durch die ganze Stadt fuhr. Ein Gespräch mit dem Fahrer war nicht möglich. Außerhalb der Stadt Zanow wurden wir ausgeladen. Wir mussten in eine sehr große Scheune gehen, in der Unmengen von totem Vieh lagen. Der Gestank war bestialisch. Hier mussten wir Kleintiere, Hühner, Enten, Puten, Hasen und andere Tiere ausnehmen. Alle Tiere waren dick aufgequollen, sie lagerten hier schon sehr lange. Hinten in der großen Scheune waren noch mehr Menschen am arbeiten. Sie nahmen das Großvieh aus. Der Gestank war schwer zu ertragen. Wir aber bekamen neuen Mut, denn wir waren der Gefängnishölle entflogen! Unser Vorgesetzter war ein kleiner junger Russe, der uns sagte, was wir ausnehmen mussten. Er brachte uns etwas zu trinken und zu essen. Er trieb uns auch nicht zur Arbeit an, im Gegenteil, er gab uns zu verstehen, ganz langsam zu machen. Nachts konnten wir ausschlafen, ohne belästigt zu werden. Wir erholten uns langsam wieder. Wir mussten die lang gelagerten, aufgequollenen Tiere aufschneiden. Därme raus, Federn weg. Leber, Magen und Herzen extra. Es war ein so bestialischer Gestank, dass wir uns manchmal übergeben mussten. Wir liefen dann raus in die frische Luft, dann ging es uns besser. Unser kleiner, junge russische Vorgesetzter passte auf und ließ uns ganz lange draußen im Versteck ausruhen. Vor ihm hatten wir keine Angst. Das ganze Fleisch, auch vom Großvieh, kam per Auto jeden Tag in die russische Großküche nach Zanow, gegenüber des Rathauses der russischen Kommandantur. Es war die ehemalige Bäckerei Beilfuß in Zanow. Genau hierher wurden wir zwei Mädchen nach einigen Tagen gebracht. Wir waren wieder in unmittelbarer Nähe, dort, wo wir die Hölle auf Erden erlebt hatten! Hier hatten Russen und Polen eine Großküche eingerichtet. In großen Kübeln wurde hier das Fleisch gekocht. 

Hier arbeiteten zwei Mädchen, die wir sofort erkannten. Es waren Anneliese Zander aus Martinshagen und Irma Friedewald, aus unserm Heimatdorf Altwieck. Das war aber eine Freude! Wir hatten Verstärkung bekommen! Wir waren jetzt zu viert! Irma und Anneliese waren hierher verschleppt worden und hatten auch Furchtbares erlebt. Beide erzählten uns von ihren Schikanen hier in der Großküche. Hier hatte eine Polin, Frau Strugalla, mit ihren beiden erwachsenen Töchtern das Sagen. Wir wurden ihnen von einem russischen Chef zugeteilt. Nachdem alle Russen die Küche verlassen hatten, hielten sie uns, in gebrochenem Deutsch, eine Standpauke. Bei Arbeitsverweigerung würde es Peitschenhiebe, Gefängnisstrafe und Prügelstrafe geben. Uns wurde von Frau Strugalla verboten miteinander zu sprechen und befohlen, schnell zu arbeiten. Pausen gäbe es nicht! „Ich Frau Strugalla und meine Töchter sind hier der Chef!“ und wir hätten ihnen absolute Folge zu leisten. Die russische Kommandantur, gerade über die Straße, wurde auch aus dieser Küche versorgt. Junge Soldaten kamen das Essen für ihre Vorgesetzten hier abzuholen. Uns steckten sie heimlich und oft etwas Essbares in die Tasche. Sie waren uns freundlich gesonnen. Bemerkten aber die Polinnen es, hatten wir mit großen Schikanen zu rechnen. Auch holten uns die Essenträger, die auch hier ihren Napf Fettsuppe bekamen, an ihren Tisch. Sie wollten uns immer etwas abgeben. Ein Soldat hatte einen großen Napf voll Suppe und ein großes Stück Brot. Er befahl mir, es gemeinsam mit ihm aufzuessen. Er aß an einer Seite des Napfes, ich an der anderen Seite. Ich traute mich nicht, da rührte er alles zusammen und befahl mir, ohne Angst, alles alleine aufzuessen. Die drei Polinnen trauten sich nicht, solange die Soldaten im Raum waren, ein Wort zu sagen. Wir hatten durch die Soldaten Schutz vor den polnischen Frauen. Hatten sie uns alleine, begann für uns eine erschwerte Schikane. Sie waren voller Hass gegen uns vier deutsche Mädchen. Kamen Soldaten in die Küche, spielten sie das genaue Gegenteil. Sie waren die Freundlichkeit in Person. Bei allen Russen waren sie äußerst unbeliebt und je mehr galt uns ihr Hass!

Von morgens bis abends zogen jetzt russische Siegertruppen, auf der Hauptstraße, der Großen Heerstraße, Berlin – Königsberg, die direkt vor unserer Küche vorbei führte. Die Siegertruppen, unter anderem Kosakenverbände, zogen in Achterreihen mit Fahnen und Musikkapellen vor dem Haus vorbei. In Richtung Berlin. Die berittenen Kosakenverbände machten die tollsten Kunststücke, mit Fahnen, auf ihren Pferden, wenn sie an der gegenüberliegenden russischen Kommandantur vorbeikamen. Sie standen auf ihren Pferden und machten reiterische Kapriolen. Die Musikkapellen spielten von morgens bis abends fast immer dieselbe Melodie. Rosamunde, dann folgten die Fußtruppen in Achterreihen, die oft im Stechschritt an der Kommandantur vorbeizogen. Tagelang, ohne Ende zog dieser überwältigende, im größten Ausmaße gehaltene russischer Siegeszug an uns vorbei. So etwas hatten wir noch nicht gesehen. Wir waren einfach überwältigt und fühlten unsere ganze Ohnmacht. Wir waren ohne Schutz verloren.

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